Ich weiß nicht, ob ihr die politischen Vorgänge in Österreich mitverfolgt, aber ich muss mir hier einfach einmal Luft machen und aufschreiben, was in meinem Land gerade passiert. Das alles ist nicht sehr neutral, aber sehr ehrlich gemeint.
1. Die Ausgangssituation
In Österreich gibt es folgende wichtige Parteien (mit den ehesten deutschen Äquivalenten, der Parteifarbe sowie den Ergebnissen der letzten Nationalrats-, das entspricht der Bundestagswahl, 2013):
- SPÖ (Sozialdemokratische Partei Österreichs): SPD, hat aber keine so starke neoliberale Pervertierung durchgemacht wie diese unter Schröder oder Labour unter Blair; rot; 26,82 %
- ÖVP (Österreichische Volkspartei): CDU/CSU; schwarz; 23,99 %
- FPÖ (Freiheitliche Partei Österreichs): AfD, besteht aber schon viel länger; blau; 20,51 %
- Die Grünen: Bündnis 90 / Die Grünen; grün; 12,42 %
- Neos: FDP, aber erst ein paar Jahre alt und mehr eine wirklich gesellschaftsliberale als eine Lobbyistenpartei; pink; 4,96 %
Österreich wurde seit Kriegsende die meiste Zeit von einer großen Koalition aus SPÖ und ÖVP regiert, weshalb der Großteil der Bevölkerung diese Regierungsform mittlerweile gründlich satt hat. Trotzdem wurde auch nach der Nationalratswahl 2013 die rot-schwarze Koalition unter Bundeskanzler Werner Faymann (SPÖ) fortgesetzt.
2. Chronologie der Ereignisse
26.08.2014: ÖVP-Chef, Vizekanzler und Finanzminister Michael Spindelegger gibt seinen Rücktritt von allen Ämtern bekannt. (Weil die ÖVP von mächtigen Landesparteien und Interessenvertretungen dominiert wird, hat der Parteiobmann oft wenig Durchsetzungskraft, zudem wird ständig an seinem Sessel gesägt; in den letzten zehn Jahren gab es fünf ÖVP-Vorsitzende.) Sein Nachfolger als Parteichef und Vizekanzler wird Wirtschaftsminister Reinhold Mitterlehner. Sogleich beginnt das Lieblingsspiel der österreichischen Boulevard-, Halbboulevard- und "Qualitäts"medien (letztere haben etwa das Niveau besserer deutscher Regionalzeitungen): Neues Spitzenpersonal wird zu Beginn in realpolitisch unerreichbare Höhen gelobt, dann in unmerklichem Übergang kritisiert, weil es die überzogenen Erwartungen nicht erfüllt, und zum Schluss so lange in Grund und Boden geschrieben, bis es die Nerven verliert und zurücktritt. Phase 1 beginnt mit der Bezeichnung Mitterlehners als "Django", Phase 2 folgt bald darauf.
Spätsommer 2015: Die sogenannte Flüchtlingskrise "bricht aus". Aufgrund jahrzehntelanger Hetze von FPÖ und Boulevardzeitungen gegen Ausländer, insbesondere Muslime, entsteht erst gar keine Willkommenskultur, sondern es herrscht von Anfang an die fremdenfeindliche Haltung, die sich später auch in Deutschland durchsetzen wird. In Umfragen ist die FPÖ mit einigem Abstand stärkste Partei. Unter dem Druck des rechten Zeitgeistes rücken auch SPÖ und ÖVP nach rechts und fahren schon bald eine konservative Migrationspolitik.
24.02.2016: Bei der jährlich stattfindenden Westbalkan-Konferenz der in diesem Gebiet liegenden Länder wird - wohl auf Betreiben des Gastgeberlandes Österreich - die "Schließung der Balkanroute" beschlossen. In der Folge kommen weit weniger Flüchtlinge nach Europa. Österreichs Außenminister Sebastian Kurz (ÖVP) reklamiert den "Erfolg" für sich und wird später keine Gelegenheit auslassen, um darauf hinzuweisen, dass die Abschottung Europas sein "Verdienst" sei.
24.04.2016: Die Bundespräsidentenwahl - in Österreich wird das Staatsoberhaupt direkt gewählt - endet mit einem überraschend deutlichen Sieg mit 35,05 % der Stimmen für Norbert Hofer (FPÖ). Da der Bundespräsident von einer absoluten Mehrheit gewählt werden muss, wird eine Stichwahl angesetzt, in der Hofer gegen den Zweitplatzierten Alexander Van der Bellen (unabhängig, früher Grüne; 21,34 %) antreten soll. (Die drittmeisten Stimmen hat die ehemalige Richterin Irmgard Griss [unabhängig, später Neos] erhalten, die Kandidaten von SPÖ und ÖVP folgen erst auf den Plätzen 4 und 5.)
09.05.2016: Nach heftigen Protesten gegen ihn bei den traditionellen 1.-Mai-Feierlichkeiten der SPÖ tritt Parteichef und Bundeskanzler Werner Faymann - schon lange in Phase 3 - zurück. Sein Nachfolger wird Christian Kern, bis dahin Chef der Österreichischen Bundesbahn (ÖBB). Kern kündet umfassende, tatsächlich sozialdemokratische Reformen an ("Plan A"), von denen einige gegen den Widerstand der ÖVP beschlossen werden.
22.05.2016: In der Bundespräsidentenstichwahl setzt sich Alexander Van der Bellen knapp gegen Norbert Hofer durch (50,30 %). Die Anwälte der FPÖ erreichen, dass das Wahlergebnis wegen geringfügen Formfehlern aufgehoben wird. Die Bundespräsidentenstichwahlwiederholung soll am 2. Oktober stattfinden, doch weil Probleme bei der Herstellung der Briefwahlkuverts bekannt werden (der berühmte nicht haltende Klebstoff) kommt es zu einer Bundespräsidentenstichwahlwiederholungsverschiebung (das ist das österreichische Wort des Jahres 2016) auf den 4. Dezember. In dieser endgültigen Wahlrunde gewinnt Van der Bellen mit 53,80 %.
10.05.2017: Der mittlerweile in Phase 2 eingetretene Mitterlehner gibt seinen Rücktritt bekannt. Nachfolger wird der erst 30-jährige Sebastian Kurz, der schon lange als Hoffnungsträger der ÖVP gehandelt wird. Kurz krempelt die Parteistruktur um: Er entmachtet die Landespartei- und Bündechefs, gibt dem Amt des Parteivorsitzenden viel weitreichendere Befugnisse, ersetzt die bisherige Parteifarbe schwarz durch türkis und den Namen ÖVP durch "Liste Kurz - Die neue Volkspartei" (letzteres allerdings mit wenig Erfolg). Des weiteren kündigt er die Koalition mit der SPÖ auf, wodurch er vorgezogene Neuwahlen am 15. Oktober auslöst und mich um die Gelegenheit bringt, an der Wahl teilzunehmen (ich werde am 10. November 2017 16 Jahre alt und damit wahlberechtigt). Auf die Kandidatenliste für die Wahl setzt er hauptsächlich "Experten" aus verschiedenen Bereichen von Kultur und Wissenschaft, die zuvor keine Parteimitglieder waren. Anfangs durch vollständige Abwesenheit gekennzeichnet, entpuppt sich sein politisches Programm als Kopie der ausländerfeindlichen Rhetorik der FPÖ: Er verweist wie oben angekündigt bei jeder Gelegenheit auf die unter seiner Mitwirkung beschlossene Schließung der Balkanroute und macht für praktisch alle Probleme des Landes Migranten verantwortlich - der Politologe Peter Filzmaier sagt nach einer Fernsehdiskussion über ihn: "... er hat Glück, dass es heute nicht um Verkehrspolitik ging, weil da hätte er wahrscheinlich auch argumentiert, das verkehrspolitische Problem sind Burkaträgerinnen, die illegal in zweiter Spur vor den Islam-Kindergärten parken." Die Strategie geht auf: Die Umfragewerte der ÖVP schnellen in die Höhe und überholen die der FPÖ.
Juni/Juli 2017: Das Grünen-Urgestein Peter Pilz wird nicht auf den von ihm gewünschten vierten Listenplatz für die Nationalratswahl gewählt. Daraufhin tritt er aus der Partei aus und mit einer eigenen Liste, die stark an das Konzept der neuen ÖVP erinnert und trotz linken Selbstverständnisses mit Islamfeindlichkeit Stimmen zu gewinnen versucht, zur Wahl an. Die Grünen, destabilisiert durch die Abspaltung der Jugendorganisation und den Rücktritt der langjährigen Parteichefin Eva Glawischnig, geraten noch weiter in die Defensive, da Pilz beim Boulevard populär ist.
26.07.2017: Christian Kern verkündet einen Inseratenstopp der SPÖ für Boulevardzeitungen. Der kaum vorstellbare Einfluss dieser Zeitungen auf die öffentliche Meinung wurde schon mehrfach angedeutet; die größte unter ihnen, die "Kronen Zeitung", hat trotz Deppen Leer Zeichen eine Reichweite von über 30 Prozent (!!!). Die Ausrichtung der Zeitungen ist grundsätzlich rechtspopulistisch, kann aber an jede beliebige Partei oder Person angepasst werden, die zu ausreichenden finanziellen Gegenleistungen, etwa in Form von Inseraten, bereit ist. Kern will offenbar mit dieser jahrzentealten Praxis aufräumen; das hat zur Folge, dass die Boulevardzeitungen eine gewaltige Imagezerstörungskampagne gegen Kern beginnen, der aus einer relativ glimpflichen Phase 2 in eine besonders aggressive Phase 3 gerät, lautstark die Übernahme der SPÖ durch den parteirechten Verteidigungsminister Hans-Peter Doskozil fordern und Kurz noch mehr hofieren als ohnehin schon - letzteres ist auch bei den weniger niveaulosen Zeitungen zu beobachten. Der Wahlkampf der SPÖ wird fortan bei jeder Gelegenheit als "verpatzt" hingestellt, über Kurz fast nur positiv, über die FPÖ kaum mehr berichtet.
15.10.2017: Die vorgezogene Nationalratswahl bringt folgendes Ergebnis:
- ÖVP: 31,47 % (+7,48)
- SPÖ: 26,86 % (+0,04)
- FPÖ: 25,97 % (+5,46)
- Neos: 5,30 % (+0,34)
- Liste Pilz: 4,41 % (neu)
- Grüne: 3,80 % (-8,62)
Damit sind die Grünen nicht mehr im Nationalrat vertreten (die Einzugshürde liegt bei vier Prozent). ÖVP und FPÖ treten in Koalitionsverhandlungen, deren Organisation in zahlreichen im Grunde gegeneinander arbeitenden Gruppen frappierend an die Beschreibung der Parallelaktion im "Mann ohne Eigenschaften" erinnert, Christian Kern bleibt zur großen Enttäuschung des Boulevards SPÖ-Chef.
03./04.11.2017: Mehrere weniger niveaulose Zeitungen berichten von Vorwürfen gegen Peter Pilz, er habe Frauen sexuell belästigt. Pilz behauptet, sich an nichts erinnern zu können und Opfer einer Racheintrige der Grünen zu sein, verzichtet aber dennoch auf sein Nationalratsmandat, will etwas später doch ins Parlament, findet niemanden, der seinetwegen den eigenen Posten aufgeben will, und demontiert sein Ansehen und das der Partei nachhaltig.
09.11.2017: Die ÖVP als stimmenstärkste Partei nominiert die Kurz-Vertraute Elisabeth Köstinger als Präsidentin des neu zusammengesetzten Nationalrats. Obwohl es den starken Verdacht gibt, dass die ÖVP dieses formal zweithöchste Amt der Republik als Zwischenversorgung vor einem künftigen Ministerposten für Köstinger missbrauchen will, wird sie von einer vergleichsweise dünnen Mehrheit der Abgeordneten gewählt.
18.12.2017: Die Regierung Kurz wird von Bundespräsident Van der Bellen angelobt. Die ÖVP stellt neben dem Bundeskanzler die Minister für "Verfassung, Reformen, Deregulierung und Justiz", Finanzen, "Nachhaltigkeit und Tourismus" (die Ministerin heißt Elisabeth Köstinger), "Bildung, Wissenschaft und Forschung", "Digitalisierung und Wirtschaftsstandort" und zwei Kanzleramtsminister. Auf der Seite der FPÖ wird Parteichef Heinz-Christian Strache Vizekanzler, Beamten- und Sportminister, die formal parteilose "Nahost-Expertin" Karin Kneissl Außenministerin, Parteistratege Herbert Kickl, der für Plakatreime à la "Daham [Daheim] statt Islam", "Pummerin [Glocke im Stephansdom] statt Muezzin" oder "Asylbetrüger haben zu gehen, Rot-Schwarz will das nicht verstehen" verantwortlich ist, Innenminister, eine gewisse Beate Hartinger-Klein Ministerin für "Arbeit, Soziales, Gesundheit und Konsumentenschutz", der steirische Landesparteichef Mario Kunasek Verteidigungsminister und der bereits bekannte Norbert Hofer Minister für "Verkehr, Innovation und Technologie". Wie man sieht, sind alle Sicherheits- und Geheimdienste in der Hand der FPÖ, die ursprünglich auch noch das Justizministerium hätte bekommen sollen, was Van der Bellen verhindern konnte.
3. Die Gegenwart
Die neue Regierung beginnt mit der Ankündigung und Ausführung erster Vorhaben.
- Die alte Regierung hatte ein generelles Rauchverbot beschlossen, das ab Mai 2018 gelten sollte. Dieses Gesetz wird jetzt aufgehoben, da sich die FPÖ als Schutzmacht der Raucher versteht. Auch eine Online-Petition, die in wenigen Tagen über 300 000 Unterschriften sammelt (Österreich hat ca. 8 Millionen Einwohner), ändert daran nichts.
- Verkehrsminister Hofer kann sich vorstellen, das Tempolimit auf Autobahnen von derzeit maximal 130 auf 140 zu erhöhen. Außerdem will er erreichen, dass Autofahrer bei einer roten Ampel es der österreichischen Politik nachtun und rechts abbiegen dürfen. Innenminister Kickl will Radarkontrollen einschränken.
- Das restliche Regierungsprogramm wird hier zusammengefasst.
Gleichzeitig steht die Regierung unter Kritik, weil besonders die FPÖ seit vielen Jahren eine nicht abreißende Kette von Naziskandalen und -skandälchen produziert. Über das Regierungspersonal der Partei
kann man sich hier informieren. Am 13. Januar findet in Wien eine Großdemonstration mit über 20 000 Teilnehmern gegen ihre Politik statt.
- Innenminister Kickl spricht davon, Asylwerber künftig „konzentriert“ in Massenquartieren unterzubringen. Auf Nachfrage leugnet er jede Absicht hinter diesem Wort. Parteichef Strache verteidigt Kickl in einem Interview mit dem Argument, dieser habe „ausdrücklich nicht von Lagern gesprochen“.
- Am 23. Januar wird bekannt, dass der FPÖ-Politiker Udo Landbauer, Spitzenkandidat für die kommende Landtagswahl im Bundesland Niederösterreich, stellvertretender Vorsitzender einer Burschenschaft ist, in deren Liederbuch sich NS-Liedgut findet. Innenminister Kickl erklärt, es werde keine Ermittlungen gegen Landbauer geben. Justizminister Moser (zur Erinnerung: ÖVP) leitet sie dennoch ein. Bundespräsident Van der Bellen fordert Landbauers Rücktritt, Landbauer schließt das aus und bekommt von der FPÖ von Strache abwärts Unterstützung. Beim traditionell von ihm besuchten rechtsextremen „Akademikerball“ spricht sich Strache dennoch gegen Antisemitismus aus – und erntet einen Shitstorm von seinen Fans.
4. Schluss
Das ist die gegenwärtige Situation: Wir haben eine Regierung, die ihre Verbindungen zur rechtsextremen Szene nicht loswerden will, die einen gesellschaftspolitischen Rückschritt auf allen Ebenen betreibt und die Sozialpolitik für Reiche macht, wovon sie ablenken will, indem sie Ausländer noch mehr benachteiligt als den „kleinen Mann“, der sie gewählt hat. Da kann ich nicht anders, als den Smiley zu verwenden, für dessen Einsatz ich schon einmal gerügt worden bin: