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Philosophie
#1
Es gibt ja im Schreikasten eine auffallend rege Diskussion über die Postmoderne, ich dachte, ich verlege sie aufgrund der Komplexität der Thematik in diesen Thread.

Topolino schrieb:@Floyd: Was hast du gegen die NZZ?

Floyd schrieb:Einerseits gibt es einfach grundsätzliche politische Differenzen: die NZZ hat ein neoliberal-rechtskonservatives Profil, ich positioniere mich im linken Spektrum. Andererseits ist die NZZ, neben der FAZ, dafür bekannt, postmoderne Theorie, Queerfeminismus, Dekonstruktion und die Queer-/Gender-Theorie stark anzugreifen - und das in der Regel ohne Kenntnis von der Materie. Nehmen wir diesen Artikel über Identitätspolitik. Dort schreibt die Autorin über die Postmoderne:
NZZ schrieb:Diese unter anderem von Michel Foucault, Jacques Derrida und Jean-François Lyotard beeinflusste Strömung wurde im Englischen ursprünglich bloss als «Theory» bezeichnet und fusste auf radikalem Skeptizismus gegenüber objektiver Wahrheit, auf der Vorstellung von Objektivität als sozialem Konstrukt sowie von Wissen und Macht als Form von Herrschaft.
Das ist faktisch einfach falsch und fußt auf der Fehlinterpretation Habermas' der postmodernen Theoretiker in "Der philosophische Diskurs der Moderne". Ich bezweifle, dass die Autorin Foucault, Derrida und Lyotard überhaupt gelesen hat. (Das bedeutet jedoch natürlich nicht, dass ich Politische Korrektheit und Wokeness immer unterstützenswert finde ...)

Luk schrieb:Das Problem in diesem Beispiel sehe ich jetzt nicht. Es wird gesagt, dass die Postmoderne von diesen Philosophen beeinflusst wurde. Und wenn die Definition von Postmodernismus faktisch falsch ist, dann ist diese faktisch falsche Definition aber sehr sehr sehr verbreitet. Alle möglichen Lexika sind sich einig, dass einer der Kernpunkte des Postmodernismus der Relativismus, die Skepsis gegenüber den Konzepten von Vernunft und Wahrheit, Subjektivismus, etc. ist. So wird dieser Begriff nun mal verwendet, obs einem passt oder nicht.

McDuck schrieb:Die Skepsis bezieht sich mW auf den Objektivismus (anders herum wäre es ja auch merkwürdig) und das ganz zu recht. Was ist denn schon "wahr" und "objektiv" – solche Begriffe sind in den Geistes- und Sozialwissenschaften meist nur Kampfbegriffe einer strukturkonservativen Schicht an Wissenschaftlern, die ihre eigenen wissenschaftlichen Ausgangspunkte nicht mitreflektieren und als allgemein anerkannt positionieren wollen.

Primus schrieb:Vielleicht mal etwas Primärliteratur lesen, @Luk? Dann ist das mit dem Rechthaben viel einfacher.

Luk schrieb:Rechthaben in Schreikastendiskussionen ist mir nicht wichtig genug, als dass ich meine Zeit damit verschwenden würde, mich mit weithin als antiwissenschaftlich bekannten „Philosophien“ zu beschäftigen. Gerade in den heutigen Zeiten, in denen Wissenschaft ständig von allen Seiten angefeindet wird, halte ich es nicht für nötig, mich mit einer Ideologie zu befassen, die unter anderem durch „Science wars“, „Wissenschaftskritik“ und ähnlichen Blödsinn bekannt geworden ist. Ich muss auch nichts von Kierkegaard gelesen haben, um mit hundertprozentiger Überzeugung sagen zu können, dass „Fideismus“ mit das Gefährlichste und Dümmste ist, das ich je gehört habe. Erstaunlich, dass das für euch so kontrovers ist.

McDuck schrieb:Ich habe aber nicht von Naturwissenschaften gesprochen. Wäre mir recht, wenn du bei meinen Beispielen bleibst. Einfach weil ich postmoderne Kritik an Geistes- und Sozialwissenschaften sehr sinnvoll finde. Ich diskutiere auch wesentlich weniger gern über das Wissenschaftsverständnis der Naturwissenschaften, weil ich da sicher bald an Grenzen meines Wissens stoße. Die Art, wie Erkenntnisse der Naturwissenschaften von irgendwelchen Leuten angezweifelt werden, finde ich entweder erbärmlich, gefährlich oder zum Schreien. Je nachdem. Aber ich nehme an, das weißt du auch.

Primus schrieb:Comics sind übrigens auch total blöd. Das weiß ich, weil ich nie welche lese.

Luk schrieb:@19:14 Du hast nicht von Naturwissenschaften gesprochen, und ich habe nicht von Geistes- und Sozialwissenschaften gesprochen. Ich habe gesagt, dass Postmodernismus die Naturwissenschaft kritisiert – eine weithin bekannte Tatsache – und genau das angeprangert. @19:16 Was besseres ist dir nicht eingefallen? Wenn du deine kostbare Zeit damit verbringen willst, ellenlange Bücher von Postmodernisten, Fideisten, Presuppositionalisten etc. zu lesen, die in pseudointellektueller hochgestochener Sprache darüber schwafeln, wie blöd doch Naturwissenschaft ist, kannst du das gerne machen. Ich machs nicht. Im Endeffekt ist es völlig egal, weil das Tolle an Naturwissenschaften ist, dass es ganz egal ist, ob man dran glaubt oder nicht, sie bleiben trotzdem wahr.


Der ganzen Debatte um die Postmoderne/den Postmodernismus liegt das Problem zugrunde, dass der Begriff ein sehr weites Bedeutungsspektrum hat. Einerseits bezeichnet er eine architektonische Strömung, andererseits eine aus der bildenden Kunst, er wird als historische Epoche verstanden, als kulturelle Dominante im Spätkapitalismus (wie bei Fredric Jameson) und natürlich auch als eine philosophische Theorie. Problematisch ist an der Stelle, dass der Begriff der Postmoderne im letzteren Kontext vor allem durch seine Kritiker geprägt wurde, die ihm, wie bereits in der Konversation erwähnt, "Relativismus, die Skepsis gegenüber den Konzepten von Vernunft und Wahrheit, Subjektivismus, etc." (Luk) vorwarfen. Begonnen hat das vor allem mit Jürgen Habermas, der den französischen Theoretikern, vor allem natürlich Michel Foucault, in "Der philosophische Diskurs der Moderne" vorwarf, eine gelehrsam-positive Geschichtsschreibung zu vertreten, die als Anti-Wissenschaft auftritt. Während Habermas noch als "linker" Kritiker die Postmodernen als "Neokonservative" deklarierte, wurde das bald zu einem Kritikpunkt, der vor allem von rechts an Foucault, Derrida, Lyotard etc. herangetragen wurde, zum Beispiel von Stephen Hicks in "Explaining Postmodernism: Skepticism and Socialism", von Jordan B. Peterson in diversen YouTube-Videos und seinen Lebensratgebern, von James Lindsay in verschiedenen Online-Artikeln. Und natürlich findet man auch in Artikeln des NZZ- und FAZ-Feuilletons regelmäßig Artikel darüber, wie Foucault und Derrida, die gegen Wahrheit und Logik argumentiere, für den moralischen und kulturellen Relativismus verantwortlich seien! Dieser Artikel ist ein besonders absurdes Beispiel der jeglicher Fachkenntnis entbehrt ... Das abstruse daran ist, dass man wirklich selten wirkliche Verweise auf spezifische postmoderne Werke findet ... es wirkt fast so, als ergäbe sich jegliche Kenntnis über die Postmoderne aus mittelmäßiger Sekundärliteratur? Daraus ergibt sich auch das vorherrschende Paradigma: "Man muss weder Foucault, Derrida noch Lyotard gelesen haben, die waren ja schließlich gegen Logik und Wahrheit und Objektivität sowieso. Das habe ich zumindest mal in der Zeitung gelesen oder im Radio gehört. Und ohnehin, gab's da nicht Missbrauchsvorfälle bezgl. Foucault?" Das ist natürlich ziemlich schade, weil das den Gehalt des eindrucksvollen Werks der Postmodernen verzerrt. Ja, Dekonstruktivisten und Postmoderne haben bestimmte wissenschaftliche Methoden kritisiert, aber nach einem moralischen Relativismus zum Beispiel wird man bei Foucault lange suchen.

Ach ja:
"Wenn du deine kostbare Zeit damit verbringen willst, ellenlange Bücher von Postmodernisten, Fideisten, Presuppositionalisten etc. zu lesen, die in pseudointellektueller hochgestochener Sprache darüber schwafeln, wie blöd doch Naturwissenschaft ist, kannst du das gerne machen. Ich machs nicht." (Luk)
Genau. Und Hegel und Marx les ich auch nicht, denn die waren ja totalitär. Genau wie Nietzsche und Heidegger, schließlich waren das ja Nazis. Und was ist mit Aristoteles? Hat der nicht die Sklaverei befürwortet? Woher ich das weiß? Äh ...
Wie schön wäre es, wenn man nur etablieren könnte, dass man sich mit etwas ausgiebig auseinandersetzt, bevor man es kritisiert.

"Im Endeffekt ist es völlig egal, weil das Tolle an Naturwissenschaften ist, dass es ganz egal ist, ob man dran glaubt oder nicht, sie bleiben trotzdem wahr." (Luk)
Herrjeh ... Das ist doch mal ein guter Ansatzpunkt, um sich ein wenig ausgiebiger mit Wissenschaftstheorie, Metaphysik und Epistemologie auseinanderzusetzen ...
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#2
Das hatte ich nicht gesehen. Ich kopiere mal die restlichen Shouts hier rein:

Primus schrieb:
Zitat:Im Endeffekt ist es völlig egal, weil das Tolle an Naturwissenschaften ist, dass es ganz egal ist, ob man dran glaubt oder nicht, sie bleiben trotzdem wahr.
Ernsthaft? Das ist nicht dein Niveau. Um den argumentativen Wert dieses Satzes zu erkennen, einfach mal "Naturwissenschaften" durch "Religion" oder "Marxismus-Leninismus" oder "der Weihnachtsmann" ersetzen. Natürlich muss sich niemand mit Wissenschaftstheorie auseinandersetzen. Aber es ist nicht nur in den Naturwissenschaften ein anerkannter Grundsatz, dass man sich ein Urteil über eine Sache erst bilden sollte, nachdem man sie kennengelernt hat. Andernfalls heißt es Vorurteil, und das ist nicht lobend gemeint.

CKOne schrieb:Ich hab ja nicht viel Ahnung von Philosophie und hab auch kein wirkliches Interesse daran. Mit der "Wahrheit" der Naturwissenschaften ist es aber so eine Sache. Die Erkenntnisse dort sind ja eigentlich ausschließlich Beobachtungen und Vereinbarungen von Wissenschaftlern. Wirklich hieb- und stichfeste Beweise lassen sich aber nicht liefern. So ist eigentlich gar nicht klar, dass Äpfel wirklich immer vom Baum auf den Boden fallen. Man hat nur in der Vergangenheit beobachtet, dass es immer der Fall war. Man kann aber nicht beweisen, dass es in der Zukunft auch immer so sein wird. Genauso kann man nicht vollständig beweisen, dass der aktuelle Klimawandel vom Menschen gemacht ist - nur weil die Klimaerwärmung seit dem Beginn der Industrialisierung (und damit der Zunahme der sogenannten Treibhausgase) einhergeht. Da ist die Mathematik deutlich im Vorteil, wo niemand ernsthaft anzweifeln kann, dass es unendlich viele Primzahlen gibt. Dafür gibt es einen vollständigen Beweis, der auch bis in alle Ewigkeiten unverändert stimmt. In den Naturwissenschaften ist das aber nicht möglich. (Ich möchte an dieser Stelle aber nochmal anmerken, dass ich weder Zweifel an der Gravitation noch an der Beteilgung des Menschen am aktuellen Klimawandel habe.)

Primus schrieb:Übrigens sollte man sich allgemein bei komplexen Wissensgebieten, aber besonders in den Geisteswissenschaften nie auf Informationen aus zweiter Hand wie Zusammenfassungen verlassen. Es ist nicht möglich, ein philosophisches Werk zusammenzufassen, ohne dass die Differenzierungen und die eigentlichen Argumentationen verlorengehen, zumindest für den, der den Originaltext nicht kennt. Und das geht noch von dem Fall einer völlig akkuraten Zusammenfassung ohne Missverständnisse, selektive Lektüre, Interesse an Skandalisierung etc. aus, der in der Praxis selten vorkommt. An einem Beispiel:
Zitat:Ich muss auch nichts von Kierkegaard gelesen haben, um mit hundertprozentiger Überzeugung sagen zu können, dass „Fideismus“ mit das Gefährlichste und Dümmste ist, das ich je gehört habe.
Nein, das musst du nicht. Aber du musst ihn lesen, um sagen zu können, ob er wirklich das vertreten hat, was du dir unter Fideismus vorstellst, oder ob die Sache vielleicht doch nicht so einfach ist.



(26.10.2021, 19:20)Floyd Moneysac schrieb: Genau. Und Hegel und Marx les ich auch nicht, denn die waren ja totalitär. Genau wie Nietzsche und Heidegger, schließlich waren das ja Nazis. Und was ist mit Aristoteles? Hat der nicht die Sklaverei befürwortet? Woher ich das weiß? Äh ...
Du hast Platon vergessen. Der hat doch den Faschismus erfunden. Kannste bei Popper nachlesen, muss stimmen.
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#3
(26.10.2021, 19:45)Primus schrieb: Du hast Platon vergessen. Der hat doch den Faschismus erfunden. Kannste bei Popper nachlesen, muss stimmen.

Apropos: Dieser wahnsinnig lustige Artikel ist so wohl das Schlimmste, was jemals zu Platon und Hegel geschrieben wurde:

New Discourses schrieb:These are the subject matter of Karl Popper’s 1945 masterwork, The Open Society and its Enemies. Popper first documents and exposes the reactionary political philosophies of Plato and Aristotle, created at a time where the birth of democracy was causing rapid change to Athenian society. This was a development which Plato greatly feared, and which he therefore tried to stop in its tracks. Popper goes on to show how these flawed philosophical ideas were taken up in modernity by Hegel, whose work as an apologist for Prussian absolutism marks him out in ignominy as the intellectual father of modern totalitarianism.
Ah ja.

Luk schrieb:Anderes Beispiel: Wissenschaftler haben über COVID geforscht und akkurat den Weg aus der Pandemie aufgezeigt, millionen „Wissenschaftsgläubige“, die sich nicht für „Epistemologie“ interessieren, sind gefolgt – und es funktioniert. Ohne die Wissenschaft wären wir jetzt sehr am Arsch.

Ich halte es für durchaus sinnvoll sich sich an den Erkenntnissen von Epidemiologen und Virologen zu orientieren, allerdings sollte man politische Entscheidungen nicht nur von (natur-)wissenschaftlichen Erkenntnissen abhängig machen, denn diese positivistische Haltung vernachlässigt, dass Wissenschaft sich nicht immer an moralischen Leitlinien orientieren muss. Horkheimer trifft es in "Kritik der instrumentellen Vernunft" auf den Punkt:

Max Horkheimer schrieb:Der objektive Fortschritt der Wissenschaft und ihre Anwendung, die Technik, rechtfertigen die geläufige Vorstellung nicht, daß die Wissenschaft nur dann zerstörerisch ist, wenn sie pervertiert wird, und notwendig konstruktiv, wenn sie angemessen verstanden wird.
Fraglos könnte von der Wissenschaft ein besserer Gebrauch gemacht werden. Es ist jedoch keineswegs ausgemacht, daß der Weg,
die guten Möglichkeiten der Wissenschaft zu verwirklichen, überhaupt auf ihrer gegenwärtigen Bahn liegt. Die Positivisten scheinen
zu vergessen, daß die Naturwissenschaft, wie sie von ihnen verstanden wird, vor allem ein zusätzliches Produktionsmittel ist, ein Element unter vielen im sozialen Prozeß. Es ist demzufolge unmöglich, a priori zu bestimmen, welche Rolle die Wissenschaft beim tatsächlichen Fortschritt oder Rückschritt der Gesellschaft spielt. Ihre Wirkung ist dabei so positiv oder negativ wie die Funktion, die sie in der allgemeinen Tendenz des ökonomischen Prozesses annimmt.
(Horkheimer 1991: 75ff.)
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#4
(26.10.2021, 19:20)Floyd Moneysac schrieb: Ach ja:
"Wenn du deine kostbare Zeit damit verbringen willst, ellenlange Bücher von Postmodernisten, Fideisten, Presuppositionalisten etc. zu lesen, die in pseudointellektueller hochgestochener Sprache darüber schwafeln, wie blöd doch Naturwissenschaft ist, kannst du das gerne machen. Ich machs nicht." (Luk)
Genau. Und Hegel und Marx les ich auch nicht, denn die waren ja totalitär. Genau wie Nietzsche und Heidegger, schließlich waren das ja Nazis. Und was ist mit Aristoteles? Hat der nicht die Sklaverei befürwortet? Woher ich das weiß? Äh ...
Wie schön wäre es, wenn man nur etablieren könnte, dass man sich mit etwas ausgiebig auseinandersetzt, bevor man es kritisiert.
Die Diskussion ist zwar schon ein bisschen ausgefranst, aber das hier würde ich ganz gerne noch richtigstellen: Ich bin in diesem Punkt voll deiner Meinung. Ich sage „Es gibt eine Ideologie X, die ich ablehne. Wenn es einen Autor Y gibt, der ein Vertreter von Ideologie X ist, muss ich Autor Y nicht lesen, um Ideologie X abzulehnen“. Dein Charakter sagt „Es gibt einen Autor X. Wenn es eine Ideologie Y gibt, die ich ablehne, und ich mal gehört habe, dass Autor X ein Vertreter von Ideologie Y sein könnte, muss ich Autor X nicht lesen, um Autor X abzulehnen“. Ich will nicht Nietzsche nicht lesen, ich will Nationalsozialismus nicht lesen. Ich muss keinen Nationalsozialisten (Beispiel: Hitler) lesen, um den Nationalsozialismus abzulehnen. Wenn Nietzsche die Definition eines Nationalsozialisten nicht erfüllt (tut er in der Tat nicht), dann muss er sich nicht angesprochen fühlen.

(26.10.2021, 19:45)Primus schrieb:
Zitat:Ich muss auch nichts von Kierkegaard gelesen haben, um mit hundertprozentiger Überzeugung sagen zu können, dass „Fideismus“ mit das Gefährlichste und Dümmste ist, das ich je gehört habe.
Nein, das musst du nicht.
Eben.

(26.10.2021, 19:45)Primus schrieb: Aber du musst ihn lesen, um sagen zu können, ob er wirklich das vertreten hat, was du dir unter Fideismus vorstellst, oder ob die Sache vielleicht doch nicht so einfach ist.
Klar, aber mir ist eigentlich schnurz, was Kierkegaard sagt. Mich interessiert, was der Fideismus sagt. Kierkegaard war nur ein Beispiel für einen Fideisten, damit es sich nicht so langweilig liest (keine gute Idee, ich weiß). Wenn Kierkegaard nicht das vertreten hat, was ich mir unter Fideismus vorstelle, muss ich ihn halt durch den Nächstbesten ersetzen, der das tut, und dann stimmst du mir ja schon zu.
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#5
Weitere Schreie:

Luk schrieb:Ich gebe zu, den letzten Satz habe ich gestohlen, um zu sehen, wie ihr reagiert: https://www.reddit.com/r/PhilosophyMemes...f_on_neil/ Für mich hat dieses Beispiel etwas äußerst lustiges: In einer Zeit, in der sich die Naturwissenschaft von allen Seiten Angriffen ausgesetzt sieht und relativistisches Gelaber hohe Popularität genießt, empören sich realitätsentrückte Philosophiestudenten auf korinthenkackerische Weise über die Aussage eines Wissenschaftlers, dass Wissenschaft unabhängig vom Glauben daran „wahr“ ist. Dass Wissenschaft nicht im exakten Sinn des Wortes dogmatisch „wahr“ ist, weiß ich, aber sie ist überall dort „wahr“, wo es relevant ist. Wissenschaft funktioniert und kann genaue hilfreiche Voraussagen treffen, für quasitheologisches Geschwafel gilt das nicht. Wenn es außerhalb irgendwelcher Philosophenbubbles sozial akzeptabel wäre, an so etwas wie Fideismus zu glauben, sähe unsere Welt ganz schnell ganz schlecht aus. Anderes Beispiel: Wissenschaftler haben über COVID geforscht und akkurat den Weg aus der Pandemie aufgezeigt, millionen „Wissenschaftsgläubige“, die sich nicht für „Epistemologie“ interessieren, sind gefolgt – und es funktioniert. Ohne die Wissenschaft wären wir jetzt sehr am Arsch. Der eher an Philosophie interessierte Primus hingegen hat nach anderthalb Jahren „keine Meinung“ zu dem Thema, weil es so „unübersichtlich“ ist. Sehr ihr, was ich meine?

Primus schrieb:Ich kannte die Quelle. Das ändert nichts daran, dass der Satz bestürzend unreflektiert und unter deinem Niveau ist. / Wir halten fest: Wissenschaft (womit du Naturwissenschaft meinst) war vorhin noch „wahr“ und „objektiv“, jetzt „funktioniert“ sie nur mehr. Letzteres bestreitet niemand. Aber man kann es aus unterschiedlichen Blickwinkeln sehen. / Es ist nicht die Aufgabe der Philosophie, Covid-19 zu bekämpfen. Es ist nicht die Aufgabe „der Wissenschaft“ (womit du „Naturwissenschaft“ und speziell „Medizin und verwandte Wissenschaften“ meinst), ihre eigenen Auswirkungen, Wahrheitscharakter und Sinnhaftigkeit zu bewerten. Um sagen zu können, ob „es funktioniert“, ist es mindestens einige Jahre zu früh. / Wenn du in Anführungszeichen zitierst, dann bitte wörtlich.1

McDuck schrieb:Hm, ich denke es schadet nicht, sich mal mit Produktionsbedingungen von Wissenschaften auseinanderzusetzen. Deswegen kann man immer noch die Erkenntnisse der Naturwissenschaft als "wahr" (was auch immer man darunter versteht) ansehen, aber bekommt vielleicht eine gewisse sinnvolle Distanz zu dem, was da laufend an Erkenntnissen produziert wird. Und im Übrigen wäre ich dir verbunden, wenn du "Naturwissenschaft" schreibst, wenn du "Naturwissenschaft" meinst, weil auch Philosophie, Geschichte, Germanistik, Soziologie usw sind im deutschsprachigen Verständnis Wissenschaften.

Primus schrieb:Der arme Luk. Simultanschach gegen drei Geisteswissenschaftler.

Luk schrieb:Wahr und objektiv in jedem relevanten Sinne. Eingefleischte Philosophen, die sich mit Fragen beschäftigen wie „Woher soll ich wissen, dass ich nicht der einzige real existierende Mensch auf der Welt bin und alle anderen Menschen nur von mir erträumt sind?“, würden an diesen Worten Anstoß nehmen, aber das ist wohl kaum ein Grund, auf diese ungeheuer sinnvollen Worte zu verzichten. Im Übrigen sind es doch immer die Philosophen, die sich empören, die Wissenschaft würde ihren Zuständigkeitsbereich verlassen. Irgendein Wissenschaftler sagt was übers Klonen, zack! kommt ein Philosoph (meistens auch Theologe) und schreibt einen Artikel, der noch mal betont, es sei nicht die Aufgabe der Wissenschaft, zu beurteilen, was richtig und falsch wäre, dafür bräuchte es die Philosophie (und Religion). Schön, aber wenn es der eigene Zuständigkeitsbereich ist, die Auswirkungen, Wahrheitscharakter und Sinnhaftigkeit von wissenschaftlicher Arbeit zu beurteilen, dann geht damit auch Verantwortung einher. Ich sehe nicht, wieso das bei COVID anders sein sollte. Wenn es die Aufgabe der Wissenschaft ist, herauszufinden, ob und wie man Menschen klonen kann, und die Aufgabe der Philosophie, herauszufinden, ob und wann man das auch tun sollte, dann ist es auch die Aufgabe der Wissenschaft, herauszufinden, ob und wie man COVID bekämpfen kann, und die Aufgabe der Philosophie, herauszufinden, ob und wann man das auch sollte. Und was bitte meinst du mit „einige Jahre zu früh?“ Fest steht, wenn die Welt aus weniger Wissenschaftsanhängern und mehr Leuten mit deiner Wischiwaschi-Position bestünde, wären sehr viele Leute mehr verreckt. Ist das etwa nicht die Aufgabe der Philosophie, zu sagen, ob Leute verrecken sollten?



Antworten von mir (zuerst zum Thema Wissenschaftskritik, dann zum Thema Lektüre):

Luk schrieb:Wenn du deine kostbare Zeit damit verbringen willst, ellenlange Bücher von Postmodernisten, Fideisten, Presuppositionalisten etc. zu lesen, die in pseudointellektueller hochgestochener Sprache darüber schwafeln, wie blöd doch Naturwissenschaft ist, kannst du das gerne machen.
Interessant wäre ja noch das Kriterium, mit dem du intellektuelle von pseudointellektueller Sprache unterscheidest. (Dass du, um den Begriff Pseudointellektualität zu verwenden, die Existenz echter Intellektualität annehmen musst, brauche ich dir sicher nicht zu erklären.)

Luk schrieb:Wissenschaftler haben über COVID geforscht und akkurat den Weg aus der Pandemie aufgezeigt, millionen „Wissenschaftsgläubige“, die sich nicht für „Epistemologie“ interessieren, sind gefolgt – und es funktioniert. Ohne die Wissenschaft wären wir jetzt sehr am Arsch.
Wir haben die Pandemie also besiegt? Komisch, das war mir noch gar nicht aufgefallen.

Luk schrieb:Wahr und objektiv in jedem relevanten Sinne.
Jetzt müsstest du ja nur noch „relevant“ definieren. Und dann erklären, woraus du schließen kannst, dass (Natur-)Wissenschaft „wahr und objektiv“ ist. Spoiler: Du wirst in beiden Fällen nicht aus dem Zirkel kommen, dass du Wissenschaftlichkeit voraussetzen musst, um Wissenschaftlichkeit zu begründen.

Luk schrieb:Fest steht, wenn die Welt aus weniger Wissenschaftsanhängern und mehr Leuten mit deiner Wischiwaschi-Position bestünde, wären sehr viele Leute mehr verreckt.
Ich weiß nicht ganz, wofür du hier argumentieren willst. Wenn alle Menschen, die Tätigkeit A mögen und gut können, dazu gezwungen würden, Tätigkeit B auszuüben, die sie weder mögen noch gut können, die aber nach Bs eigenen Maßstäben sinnvoller ist, wäre die Welt besser?2
Übrigens bin ich in meinem praktischen Handeln während der Pandemie durchaus „Wissenschaftsanhänger“, weil ich keine bessere Möglichkeit sehe. Was ich nicht tue, ist zu sagen: „So und so ist es, das und das muss man tun, das weiß ich, weil es Fakten sind“. So unterkomplex ist weder die Welt noch eine recht verstandene Wissenschaft – das sollte man nach anderthalb Jahren gemerkt haben.

Luk schrieb:Schön, aber wenn es der eigene Zuständigkeitsbereich ist, die Auswirkungen, Wahrheitscharakter und Sinnhaftigkeit von wissenschaftlicher Arbeit zu beurteilen, dann geht damit auch Verantwortung einher. Ich sehe nicht, wieso das bei COVID anders sein sollte. Wenn es die Aufgabe der Wissenschaft ist, herauszufinden, ob und wie man Menschen klonen kann, und die Aufgabe der Philosophie, herauszufinden, ob und wann man das auch tun sollte, dann ist es auch die Aufgabe der Wissenschaft, herauszufinden, ob und wie man COVID bekämpfen kann, und die Aufgabe der Philosophie, herauszufinden, ob und wann man das auch sollte. Und was bitte meinst du mit „einige Jahre zu früh?“ Fest steht, wenn die Welt aus weniger Wissenschaftsanhängern und mehr Leuten mit deiner Wischiwaschi-Position bestünde, wären sehr viele Leute mehr verreckt. Ist das etwa nicht die Aufgabe der Philosophie, zu sagen, ob Leute verrecken sollten?
Du weist hier der Philosophie einen Zuständigkeitsbereich im Zusammenhang des gesellschaftlichen Mechanismus zu (nämlich herauszufinden, was die Gesellschaft tun soll). Auf einen solchen Bereich und seine Aufgaben kann sie aber nicht beschränkt bleiben, weil der Charakter der Philosophie gerade das unbeschränkte Hinterfragen ist, auch solcher Bereiche und Aufgaben und der Geisteshaltung, die alle menschliche Tätigkeit unter dem Gesichtspunkt der Funktion im gesellschaftlichen Mechanismus betrachtet. Dieses Hinterfragen braucht Zeit; auf die Unseriosität von „philosophischen“ Büchern über brandaktuelle Vorgänge kann man sich gewöhnlich verlassen (übrigens auch auf die Plattheit von literarischen). Deshalb und wegen der spezifischen Erkenntnisweise der Philosophie, deren Wahrheiten eben nicht so einfach in konkrete Handlungsanweisungen übersetzbar sind und die – das gebe ich offen zu – so mancherlei in schönen Worten rechtfertigen kann, wird sie sogar eher immer dann fragwürdig, wenn sie solche konkreten Handlungsanweisungen gibt. Das bedeutet nicht, dass sie nicht wohlbegründete ethische Systeme aufstellen kann, die für (individuelle oder kollektive) Entscheidungen Orientierung geben können; aber sie auf die konkrete Situation anzuwenden, ist noch einmal etwas anderes als Philosophie.
Was das Thema COVID angeht: „Fest“ steht, was du schreibst, innerhalb des derzeitigen wissenschaftlichen Konsens. Aber was machst du, wenn die Wissenschaft in fünfzig oder hundert Jahren zu dem Schluss kommt, dass die heutige katastrophal danebengelegen ist und alles nur schlimmer gemacht hat? Es kommt nicht ganz selten vor, dass wissenschaftliche Erkenntnisse vollkommen umgestoßen werden. Das ist natürlich eine Stärke der Wissenschaft, aber eine, die vorsichtig machen sollte, aktuelle wissenschaftliche Fakten als „wahr und objektiv“ zu betrachten.

(26.10.2021, 20:06)Floyd Moneysac schrieb: Ich halte es für durchaus sinnvoll sich sich an den Erkenntnissen von Epidemiologen und Virologen zu orientieren, allerdings sollte man politische Entscheidungen nicht nur von (natur-)wissenschaftlichen Erkenntnissen abhängig machen, denn diese positivistische Haltung vernachlässigt, dass Wissenschaft sich nicht immer an moralischen Leitlinien orientieren muss. Horkheimer trifft es in "Kritik der instrumentellen Vernunft" auf den Punkt:

Max Horkheimer schrieb:Der objektive Fortschritt der Wissenschaft und ihre Anwendung, die Technik, rechtfertigen die geläufige  Vorstellung nicht, daß die Wissenschaft nur dann zerstörerisch ist, wenn sie pervertiert wird, und notwendig konstruktiv, wenn sie angemessen verstanden wird.
Fraglos könnte von der Wissenschaft ein besserer Gebrauch gemacht werden. Es ist jedoch keineswegs ausgemacht, daß der Weg,
die guten Möglichkeiten der Wissenschaft zu verwirklichen, überhaupt auf ihrer gegenwärtigen Bahn liegt. Die Positivisten scheinen
zu vergessen, daß die Naturwissenschaft, wie sie von ihnen verstanden wird, vor allem ein zusätzliches Produktionsmittel ist, ein Element unter vielen im sozialen Prozeß. Es ist demzufolge unmöglich, a priori zu bestimmen, welche Rolle die Wissenschaft beim tatsächlichen Fortschritt oder Rückschritt der Gesellschaft spielt. Ihre Wirkung ist dabei so positiv oder negativ wie die Funktion, die sie in der allgemeinen Tendenz des ökonomischen Prozesses annimmt.
(Horkheimer 1991: 75ff.)

Das führt jetzt etwas vom Thema weg, aber für Floyd Moneysac hier noch ein dazu passendes schönes Zitat von Gadamer:
Hans-Georg Gadamer3 schrieb:Dieses Wesen moderner Wissenschaft ist für unser ganzes Leben bestimmend. Denn das Ideal der Verifikation, die Begrenzung des Wissens auf das Nachprüfbare, findet seine Erfüllung im Nachmachen. So ist es die moderne Wissenschaft, aus deren Schrittgesetz die ganze Welt der Planung und der Technik erwächst. Das Problem unserer Zivilisation und der Nöte, die ihre Technisierung uns bereitet, ist nicht etwa darin gelegen, daß es an der rechten Zwischeninstanz zwischen der Erkenntnis und der praktischen Anwendung fehle. Gerade die Erkenntnisweise der Wissenschaft selber ist so, daß sie eine solche Instanz unmöglich macht. Sie ist selber Technik.

(27.10.2021, 03:42)Luk schrieb: Klar, aber mir ist eigentlich schnurz, was Kierkegaard sagt. Mich interessiert, was der Fideismus sagt. Kierkegaard war nur ein Beispiel für einen Fideisten, damit es sich nicht so langweilig liest (keine gute Idee, ich weiß). Wenn Kierkegaard nicht das vertreten hat, was ich mir unter Fideismus vorstelle, muss ich ihn halt durch den Nächstbesten ersetzen, der das tut, und dann stimmst du mir ja schon zu.
Bloß dass man für „Kierkegaard“ jeden beliebigen Autor einsetzen kann, dem du eine beliebige Position zuschreibst. Du kommst um die Auseinandersetzung mit den Primärtexten nicht herum. Ansonsten machst du das, was du Floyd Moneysac oben vorwirfst: Du kritisierst eine Position, die du selbst konstruiert hast.4

(27.10.2021, 03:42)Luk schrieb: Die Diskussion ist zwar schon ein bisschen ausgefranst, aber das hier würde ich ganz gerne noch richtigstellen: Ich bin in diesem Punkt voll deiner Meinung. Ich sage „Es gibt eine Ideologie X, die ich ablehne. Wenn es einen Autor Y gibt, der ein Vertreter von Ideologie X ist, muss ich Autor Y nicht lesen, um Ideologie X abzulehnen“. Dein Charakter sagt „Es gibt einen Autor X. Wenn es eine Ideologie Y gibt, die ich ablehne, und ich mal gehört habe, dass Autor X ein Vertreter von Ideologie Y sein könnte, muss ich Autor X nicht lesen, um Autor X abzulehnen“. Ich will nicht Nietzsche nicht lesen, ich will Nationalsozialismus nicht lesen. Ich muss keinen Nationalsozialisten (Beispiel: Hitler) lesen, um den Nationalsozialismus abzulehnen. Wenn Nietzsche die Definition eines Nationalsozialisten nicht erfüllt (tut er in der Tat nicht), dann muss er sich nicht angesprochen fühlen.
Das stellt erstens nun doch eine gewisse Zurücknahme deiner Position dar. Du hattest geschrieben, dass du „ellenlange Bücher von Postmodernisten, Fideisten, Presuppositionalisten etc. [...], die in pseudointellektueller hochgestochener Sprache darüber schwafeln, wie blöd doch Naturwissenschaft ist“ nicht lesen willst. Das kann man übersetzen in „Es gibt eine Ideologie X, die ich ablehne. Wenn es einen Autor Y gibt, der ein Vertreter von Ideologie X ist, lehne ich Autor Y ab und lese ihn deshalb nicht.“ Aber um ihn ablehnen zu können, musst du ihn gelesen haben. Von dieser schwer zu haltenden Position ziehst du dich also auf die moderatere zurück, die du im vorigen Schrei (26.10.2021 17:59) vertreten hast.
Zweitens verwendest du einen Trick in den Formulierungen „der ein Vertreter von Ideologie X ist“ und „ich mal gehört habe, dass Autor X ein Vertreter von Ideologie Y sein könnte“: Beide Formulierungen meinen dasselbe. Nur weist du in der zweiten sprachlich darauf hin, dass du gar nicht wissen kannst, ob der Autor die Ideologie (so, wie du sie verstehst) vertritt, bevor du ihn gelesen hast, in der ersten nicht.

Dein grundsätzlicher Fehler: Du reifizierst „Ideologien“, als würden sie unabhängig von ihren Vertretern existieren. So funktioniert Diskurs aber nicht. Jeder Autor, ja jeder Text hat seine eigene Position, die sich nur durch Vereinfachung mit anderen gleichsetzen lässt,5 und zwischen den Argumentationen für (scheinbar) ein und dieselbe Position können gewaltige Qualitätsunterschiede bestehen. Zum Beispiel kommt es vor, dass zunächst einige PhilosophInnen einen neuen Denkansatz verfolgen und dadurch zu ungewöhnlichen, aber durchdachten Ansichten gelangen, die sie in komplexen philosophischen Schriften vertreten. Daraufhin findet in mehreren Schritten eine Popularisierung dieser Ansichten statt, die immer auch eine Verflachung und oft eine Entstellung bedeutet, weil man sich auf das Neue und Provokante konzentriert und alles Schwierige, Komplizierte, in das es eingebettet ist und daraus erst seinen Sinn gewinnt, beiseitelässt, wodurch die „Theorie“ immer eingängiger und immer sinnloser wird. Schließlich landet sie in einem öffentlichen Diskurs, wo verfeindete Gruppen einander Schlagwörter an den Kopf werfen, die sie selbst nicht recht verstehen, und wo es zumeist nur um die Abgrenzung von Milieus gegeneinander geht. Ein intelligenter Mensch, der dieses Schauspiel beobachtet, muss zu dem Schluss kommen, dass die modische neue „Theorie“ Unsinn ist. So kann er dazu kommen, die ursprünglichen Werke der PhilosophInnen ungerechterweise ebenfalls für Unsinn zu halten, obwohl er, wenn er sie läse, ihnen vielleicht nicht zustimmen, aber doch bemerken würde, dass sie Substanz haben. Mit anderen Worten, es kommt so etwas heraus:

Luk schrieb:Gerade in den heutigen Zeiten, in denen Wissenschaft ständig von allen Seiten angefeindet wird, halte ich es nicht für nötig, mich mit einer Ideologie zu befassen, die unter anderem durch „Science wars“, „Wissenschaftskritik“ und ähnlichen Blödsinn bekannt geworden ist.

Natürlich kannst du auch für immer in dieser begrifflichen Schattenwelt der Ideologien aus fünfter Hand bleiben und Idioten sagen, dass sie Idioten sind. Aber es wäre schade um deinen Intellekt.

Dein Verhalten noch an einem Beispiel aus der Naturwissenschaft verdeutlicht: Nehmen wir an, du liest einen Zeitungsartikel, der die Relativitätstheorie allgemeinverständlich erklären soll. Der Autor ist aber kein besonders guter Physiker und hat die Theorie mehr schlecht als recht verstanden; seine vereinfachte Darstellung steckt deshalb voller Unklarheiten und Widersprüche. Du kannst darin keinen Sinn erkennen und fragst einen Freund, der sich für Physik interessiert. Der versichert dir, dass das alles schon seine Richtigkeit hat, kennt sich aber auch nicht gut genug aus, um dir die scheinbaren Unsinnigkeiten erklären zu können. Da verbuchst du die Relativitätstheorie gedanklich unter „Unsinn“. In Zukunft sagst du, wenn dich jemand fragt: „Warum sollte ich Einstein lesen? Ich muss ihn nicht lesen, um zu erkennen, dass die Relativitätstheorie offensichtlich Unsinn ist. Wenn er gar nicht das vertreten hat, was ich mir unter Relativitätstheorie vorstelle, interessiert er mich nicht.“


1 Vgl. meinen Schrei vom 02.10.2021: „ Ich äußere mich zwar nicht selbst zu Corona, weil ich aufgrund der Unüberblickbarkeit des Themas meine Meinungsbildung auf unbestimmte Zeit verschoben habe [...]“
2 Hier und im vorigen Schrei scheint ein rabiates Nützlichkeitsdenken anzuklingen, das in der Konsequenz nicht nur die Geisteswissenschaften, sondern auch alle Naturwissenschaft über Bord werfen muss, die etwas erforscht, was zufällig gerade keinen unmittelbaren Nutzen für die Gesellschaft hat – und das dürfte der größere Teil sein. Ich hoffe, das ist eine Fehlinterpretation.
3 Hans-Georg Gadamer: Was ist Wahrheit? In: Zeitwende. Die neue Furche. XXVIII. Jahrgang / Heft 4: Hamburg, April 1957. S. 226-237, hier S. 230. Anscheinend nicht leicht verfügbar; bei Interesse habe ich den Text als PDF.
4 Oder die ein anderer als grobe Vereinfachung etwa für einen Wikipediaartikel konstruiert hat; jedenfalls eine, die niemand tatsächlich vertritt.
5 Das gilt für Parteiideologen (z. B. gleichgeschaltete sowjetische Marxismus-Leninismus-Verkünder) und ähnliche Fälle natürlich nur eingeschränkt, aber dennoch. Die Vereinfachung, die nötig ist, um die Positionen gleichzusetzen, ist viel geringer als normalerweise, aber irgendeine noch so kleine Reduktion der Komplexität muss immer stattfinden.
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#6
Man darf aber auch das Zeitmanagement nicht vergessen. Ich lebe vielleicht um die hundert Jahre, habe also nur begrenzt Zeit und muss Prioritäten setzen. Du hast dir als Hauptpriorität im Leben Philosophie gesetzt, weswegen es sinnvoll ist, dass du eine Menge Primärliteratur liest. Aber warum sollte ich mir mehrere Bücher von Philosophen durchlesen, nur um in einer Diskussion in einem kleinen Comicforum mit noch mehr Nachdruck sagen zu können, dass ich irgendeine absurde Nischenideologie wie fast alle Menschen für Unsinn halte? Der Aufwand steht in keinem Verhältnis zum Nutzen. Dein größter Kritikpunkt an mir ist anscheinend, dass ich eine Idee oder eine Ideologie beurteile, ohne den Forschungsaufwand betrieben zu haben, mich in aller Genauigkeit mit den exakten Ansichten jeder Person auseinandergesetzt zu haben, die eine ähnliche Position vertreten könnte:
(20.11.2021, 18:11)Primus schrieb: Dein grundsätzlicher Fehler: Du reifizierst „Ideologien“, als würden sie unabhängig von ihren Vertretern existieren. So funktioniert Diskurs aber nicht.
Wie denn dann? Soll man, wenn es nach dir geht, jedes einzelne Buch eines jeden Sozialdarwinisten, der je gelebt hat, lesen, um ja keine Komplexität zu verpassen, bevor man es sich erlauben kann, sagen zu können „Ich finde die Ideologie des Sozialdarwinismus schlecht?“ Einfach den Wikipedia-Artikel zu Sozialdarwinismus durchzulesen kommt mit wesentlich weniger Zeitaufwand aufs Selbe raus. Ideen und Ideologien sind meiner Meinung nach wichtiger als einzelne Vertreter dieser.

(20.11.2021, 18:11)Primus schrieb: Du hattest geschrieben, dass du „ellenlange Bücher von Postmodernisten, Fideisten, Presuppositionalisten etc. [...], die in pseudointellektueller hochgestochener Sprache darüber schwafeln, wie blöd doch Naturwissenschaft ist“ nicht lesen willst. Das kann man übersetzen in „Es gibt eine Ideologie X, die ich ablehne. Wenn es einen Autor Y gibt, der ein Vertreter von Ideologie X ist, lehne ich Autor Y ab und lese ihn deshalb nicht.“ Aber um ihn ablehnen zu können, musst du ihn gelesen haben.
Eine fehlerbehaftete Übersetzung. Der volle Satz lautet „Wenn du deine kostbare Zeit damit verbringen willst, ellenlange Bücher von Postmodernisten, Fideisten, Presuppositionalisten etc. zu lesen, die in pseudointellektueller hochgestochener Sprache darüber schwafeln, wie blöd doch Naturwissenschaft ist, kannst du das gerne machen. Ich machs nicht.“ Das deutet schon auf den hauptsächlichsten Grund hin, warum ich solche Bücher (und generell 99,999...% aller Bücher) nicht lese: Zeitmanagement. Aufgrund der begrenzten Zeit meines Lebens muss ich mir von der großen Menge an Zeit, die ich für ein langes Buch opfere, einen entsprechend hohen Nutzen versprechen. In diesem Fall wäre der Nutzen halt, dass ich ein paar Nutzer in einem Comicforum zufriedenstelle, die finden, ich müsse erst Primärliteratur lesen, bevor ich eine Idee kritisieren kann. Das ist ein sehr geringer Nutzen, zumal ich ich mit der Prämisse nicht einverstanden bin.

(20.11.2021, 18:11)Primus schrieb: Zweitens verwendest du einen Trick in den Formulierungen „der ein Vertreter von Ideologie X ist“ und „ich mal gehört habe, dass Autor X ein Vertreter von Ideologie Y sein könnte“: Beide Formulierungen meinen dasselbe. Nur weist du in der zweiten sprachlich darauf hin, dass du gar nicht wissen kannst, ob der Autor die Ideologie (so, wie du sie verstehst) vertritt, bevor du ihn gelesen hast, in der ersten nicht.
Das ist kein Trick. Für die Wahrheit der Aussage „Es gibt eine Ideologie X, die ich ablehne. Wenn es einen Autor Y gibt, der ein Vertreter von Ideologie X ist, muss ich Autor Y nicht lesen, um Ideologie X abzulehnen“ ist es nicht relevant, ob und wann wem bekannt ist, dass Autor Y ein Vertreter von Ideologie X ist.
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#7
(20.11.2021, 20:20)Luk schrieb: Man darf aber auch das Zeitmanagement nicht vergessen. Ich lebe vielleicht um die hundert Jahre, habe also nur begrenzt Zeit und muss Prioritäten setzen. Du hast dir als Hauptpriorität im Leben Philosophie gesetzt, weswegen es sinnvoll ist, dass du eine Menge Primärliteratur liest. Aber warum sollte ich mir mehrere Bücher von Philosophen durchlesen, nur um in einer Diskussion in einem kleinen Comicforum mit noch mehr Nachdruck sagen zu können, dass ich irgendeine absurde Nischenideologie wie fast alle Menschen für Unsinn halte? Der Aufwand steht in keinem Verhältnis zum Nutzen. Dein größter Kritikpunkt an mir ist anscheinend, dass ich eine Idee oder eine Ideologie beurteile, ohne den Forschungsaufwand betrieben zu haben, mich in aller Genauigkeit mit den exakten Ansichten jeder Person auseinandergesetzt zu haben, die eine ähnliche Position vertreten könnte:

Eine fehlerbehaftete Übersetzung. Der volle Satz lautet „Wenn du deine kostbare Zeit damit verbringen willst, ellenlange Bücher von Postmodernisten, Fideisten, Presuppositionalisten etc. zu lesen, die in pseudointellektueller hochgestochener Sprache darüber schwafeln, wie blöd doch Naturwissenschaft ist, kannst du das gerne machen. Ich machs nicht.“ Das deutet schon auf den hauptsächlichsten Grund hin, warum ich solche Bücher (und generell 99,999...% aller Bücher) nicht lese: Zeitmanagement. Aufgrund der begrenzten Zeit meines Lebens muss ich mir von der großen Menge an Zeit, die ich für ein langes Buch opfere, einen entsprechend hohen Nutzen versprechen. In diesem Fall wäre der Nutzen halt, dass ich ein paar Nutzer in einem Comicforum zufriedenstelle, die finden, ich müsse erst Primärliteratur lesen, bevor ich eine Idee kritisieren kann. Das ist ein sehr geringer Nutzen, zumal ich ich mit der Prämisse nicht einverstanden bin.

Auch wenn ich selbst momentan keinen Nerv dafür habe, philosophische Werke zu lesen, muss ich doch mal einwenden, dass der Lesevorgang sicher auch mehr Nutzen hat als nur die Diskussion hier. Jedes gut geschriebene Buch kann weiterbilden, auch wenn man womöglich nicht vorher weiß, ob man mit dem/der Autor/in in allen Punkten übereinstimmen wird. Mein Vater ist übrigens ein großer Leser und hat jetzt, im fortgeschrittenen Alter und nach wohl schon tausenden gelesenen Büchern, seinen Lieblingsphilosophen entdeckt. Sein Name ist interessanterweise Kierkegaard Balken
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#8
(21.11.2021, 12:57)Spectaculus schrieb: Auch wenn ich selbst momentan keinen Nerv dafür habe, philosophische Werke zu lesen, muss ich doch mal einwenden, dass der Lesevorgang sicher auch mehr Nutzen hat als nur die Diskussion hier. Jedes gut geschriebene Buch kann weiterbilden, auch wenn man womöglich nicht vorher weiß, ob man mit dem/der Autor/in in allen Punkten übereinstimmen wird. Mein Vater ist übrigens ein großer Leser und hat jetzt, im fortgeschrittenen Alter und nach wohl schon tausenden gelesenen Büchern, seinen Lieblingsphilosophen entdeckt. Sein Name ist interessanterweise Kierkegaard  Balken
Das habe ich nicht abgestritten, aber bei einigen Büchern ist die Wahrscheinlichkeit, einen Nutzen aus ihnen zu ziehen, sehr viel höher als bei anderen. Da man in seinem Leben nur 0,000...% aller existierenden Bücher lesen kann, muss man zwingend eine Vorauswahl treffen. Es gibt allein in der Philosophie tausende Bücher, bei denen ich einen sehr viel größeren Grund habe, sie zu lesen, als die Bücher, die mir im Fieselschweif empfohlen wurden, damit das „Rechthaben viel einfacher“ ist, die mich aber sonst nicht interessieren. Wenn ich wüsste, dass ich ewig leben werde, sähe das natürlich ein bisschen anders aus.
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